Im Spiegel

Sie hat mir schon wieder nicht zugehört. Dabei habe ich die ganze Zeit, während sie sich zurechtmachte, auf sie eingeredet. Aber nein, die Dame hat es nicht nötig, auf mich zu hören. Im Flur versuche ich noch einmal, sie aufzuhalten, aber da klingelt es schon an der Tür. Sie wirft mir nur einen flüchtigen Blick zu, während sie in den Mantel schlüpft, öffnet gleichzeitig die Tür und begrüßt dann den Kerl.

Mir wird beinahe schlecht, wie sie sich dem Typen an den Hals wirft, muß aber trotzdem meinen Begleiter für den heutigen Abend abknutschen. Was Evas Kerl ihr in das Ohr flüstert, kann ich nicht verstehen, wohl aber meinen.
"Na, das kann ja heiter werden, so wie die turteln ...". Seinem Tonfall nach, freut er sich auf den Abend so sehr wie ich. "Was hältst du davon, wenn wir uns absetzen?"
"Toll!", stimme ich zu, "am Besten du in die eine Richtung und ich in die andere." Daraus wird leider nichts, und dank der vielen beleuchteten Schaufenster entlang des Wegs zum Restaurant bleibt uns nichts anderes übrig, als genau so eng umschlungen zu gehen wie die beiden.
Und dann das Lokal. "Oh nein," stöhnt mein Begleiter, als er all die spiegelnden Scheiben sieht. "Vielleicht haben sie ja einen Tisch in der Mitte," flüstere ich. Diese Hoffnung wird natürlich enttäuscht, wir bekommen einen Tisch direkt am Fenster zugewiesen. So sind wir dazu gezwungen, den ganzen Abend uns verliebte Blicke zuzuwerfen, Händchen zu halten und zwischendurch so zu tun, als äßen wir.
Später, sie tuscheln mal wieder miteinander, haucht er mir ins Ohr, "habt ihr eigentlich einen Spiegel im Schlafzimmer?" - "Nein, und ihr?" - "Wir schon, sogar einen großen." - "Hoffentlich gehen sie dann zu uns!"
Immerhin dieser Wunsch geht in Erfüllung, doch schon im Flur beginnt er über Eva herzufallen. Trotz der Küsserei schaffen sie es bis ins Schlafzimmer und Eva knipst das Licht an. "Bitte nicht," stöhne ich auf. Die Männer beginnen uns auszuziehen, da bremst Eva plötzlich. "Die Nachbarn!", warnt sie Während Eva die Vorhänge vorzieht, sehe ich ihr warnend in die Augen, doch sie blickt durch mich hindurch. Dann bin ich endlich allein.

Am nächsten Morgen begegnen wir uns im Badezimmer, ihre Augen sind rot verweint. Eva stützt sich auf das Waschbecken, schließt die Augen und lehnt ihre Stirn gegen meine. Einige Herzschläge später atmet sie tief durch und richtet sich wieder auf. Ihr Blick bohrt sich in meinen, dann fängt sie an, mich zu beschimpfen. Da ich Mitleid mit ihr habe, lasse ich ihr das durchgehen - "wenn es ihr hilft", denke ich. Als sie sich von "Blöde Kuh" zur "Idiotin" steigert, wird es mir aber dann doch zu viel.
"Wieso soll eigentlich ich die Idiotin sein?", halte ich ihr vor. "Du bist es doch, die sich auf den Typen eingelassen hat, obwohl ich dich mehrmals gewarnt habe."
"Du hast gut reden," entgegnet sie. "Ich habe mich nun mal auf den ersten Blick in ihn verknallt. Woher hätte ich auch wissen sollen, dass er so ein..."
"Na hör mal, das Wort "Mistkerl" steht ihm doch auf die Stirn geschrieben. Schon vom ersten Treffen an war klar, dass er dich nur flachlegen wollte. Tiefgang hat der Kerl doch wirklich nicht."
"Meinst du das wirklich?" Eva sieht mich fragend an. Dann schüttelt sie den Kopf und wendet sich ab. Ich betrachte ihren Rücken, dann drehe auch ich mich um.

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