Der zwanzigste Geburtstag

Gleichzeitig greifen wir nach der Teekanne. Da treffen sich unsere Augen, und in dem Moment fangen wir an zu lachen. Draußen schneit es in dicken Flocken, und wir feiern den zwanzigsten Geburtstag unserer Tochter. Diese ist daran gewöhnt, daß sich ihre Eltern immer noch wie ein frisch verliebtes Pärchen benehmen und schüttelt nur leicht den Kopf. "Weißt du, Tina," erzählt mein Mann, "wir haben uns gerade an den Tag deiner Geburt erinnert. Damals schneite es genauso stark wie heute, und wir saßen gemütlich beim Teetrinken, als der Anruf kam, auf den wir schon tagelang gewartet hatten. Und dann der Weg zu dir in die Klinik ..."
Tina schmiegt sich an ihren Freund Max und blickt ihren Vater an. "Bitte erzähl weiter, Paps. Du weißt doch, daß das meine Lieblingsgeschichte ist, seit ich ein kleines Kind war." Mein Mann lächelt mir zu, und dann beginnt er zu erzählen.

Draußen schneite es in dicken Flocken, und sie saßen gemütlich beim Tea for Two, als der Anruf kam, auf den sie schon seit Tagen gewartet hatten. Vergessen waren plötzlich die langen Gespräche, in denen sie sich auf diesen Moment vorbereitet hatten. Vergessen war ihr gemeinsamer Beschluß, nicht wie andere werdende Väter in Panik auszubrechen. Vergessen war der gute Vorsatz, auf der Fahrt in die Klinik Ruhe zu bewahren. Vergessen war alles - außer dem Wunsch, schnellstmöglich zu ihrem neugeborenen Kind zu kommen.
Kopflos hetzten sie durch die Wohnung und suchten Mäntel und Schlüssel. Schließlich saßen sie im Taxi, das sie auf dem schnellsten Weg zur Klinik bringen sollte. "Geht es nicht ein bißchen schneller," feuerten sie den Fahrer an. "Wir haben es eilig. Vor einer halben Stunde ist nämlich unsere Tochter zur Welt gekommen."
Im Rückspiegel betrachtete der Taxifahrer neugierig seine Fahrgäste. Plötzlich aber trat er abrupt auf die Bremse. Schlingernd kam der Wagen zum Stehen und der Fahrer drehte sich mit kreidebleichem Gesicht nach hinten. "Eure Tochter? Euer - gemeinsames - Kind?" Das Paar auf dem Rücksitz bestätigte ihm dies, und langsam drehte er sich wieder nach vorne, fuhr aber noch nicht wieder los. Eine weitere Frage brannte ihm auf der Seele. "Wart etwa ihr es, die vor gut einem Jahr inseriert hatten "Leihmutter gesucht‘?"
Auf ein leises Nicken hin umklammerte er das Lenkrad mit beiden Händen, murmelte ein inbrünstiges "Scheiße", dann nochmals "Scheiße, Scheiße, Scheiße" und sackte schluchzend in sich zusammen.

"Dieser Taxifahrer hatte also so was wie einen Nervenzusammenbruch, weil sie sich durch eine Zeitungsanzeige eine Mutter für ihr Kind gesucht haben," erklärt Tina ihrem Freund.
"Darüber haben wir uns auch gewundert. Als er sich dann langsam beruhigte, versuchten wir, ihn auszufragen. Sein Name war Tom..."
Schon wieder unterbricht Tina ihren Vater. "Tom hast du ja neulich kennengelernt." Tom ist ihr Patenonkel, der Ehemann ihrer Mutter und unser bester Freund.
Ich lege ihr den Arm um die Schultern. "Meinst du nicht, du solltest Paps ausreden lassen?" Sie nickt mir zu. "O.k. Also, Paps, erzähl weiter!"

Sein Name war Tom, und vor einem Jahr lebte er mit Katja, seiner damaligen Freundin zusammen. Sie waren Studenten und so glücklich, wie man mit dauernden Geldsorgen nur sein konnte. Tom verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit Taxifahren und Katja hatte mehrere Jobs gleichzeitig. Eines Tages entdeckte Tom in der Zeitung eine Annonce. "Sieh mal," flachste er, "wäre das nicht die Lösung für unsere Geldprobleme? Die haben sicher Zaster ohne Ende und könnten uns bestimmt was davon abgeben."
Tom hatte diesen Vorschlag als Ulk gemeint, doch Katja dachte den ganzen Tag darüber nach. Wäre das nicht wirklich die Lösung? Abends versuchte sie, mit Tom darüber zu reden, doch er blockte sofort ab. An diesem Tag beharrte Katja nicht auf dem Thema, doch später versuchte sie es noch einmal - und dieses Mal explodierte Tom. Du spinnst ja! Ich lasse nicht zu, daß meine Frau sich verkauft! Du bist doch keine Nutte! Der Streit eskalierte, und plötzlich stellte Tom ein Ultimatum.

"Entweder du vergißt diese hirnverbrannte Aktion - oder du kannst mich vergessen."

Tom erschrak über seine eigenen Worte. Aber zurücknehmen konnte und wollte er sie nicht. Katja gab keine Antwort. Jedoch als Tom am nächsten Tag von der Vorlesung nach Hause kam, war sie nicht mehr da.

Einen Augenblick lang ist es still im Zimmer. Dann redet mein Mann weiter. "Deshalb hat Tom so heftig reagiert. Und indem er uns seine Geschichte erzählt hat, ist er wohl auch einen großen Teil seiner Wut und seines Selbstmitleids losgeworden. Seine Augen hatten wieder mehr Glanz bekommen, und er begann jetzt, uns auszufragen."
"Wir lebten damals schon einige Jahre zusammen - wenn es möglich gewesen wäre, hätten wir schon längst geheiratet - und doch fehlte uns in unserer Partnerschaft noch etwas. Im Laufe der Zeit wuchs in uns der Wunsch nach einem Kind. Es gab nur noch ein Problem - uns fehlte die Mutter.
In unserem Freundeskreis wollten wir keine der Frauen fragen, da verfielen wir eben auf die Zeitungsanzeige - und wie sich gezeigt hat, mit Erfolg. Es schrieben uns einige Frauen, doch nur ein Brief wirkte auf uns auf Anhieb sympathisch. Daraufhin meldeten wir uns telefonisch und verabredeten uns in einem Café."

Katja traute ihren Augen nicht, als sie zum verabredeten Termin ins Café trat. An dem vereinbarten Tisch saßen zwei Männer, die ihr erwartungsvoll entgegensahen. Nach einer Minute verlegenen Schweigens begannen sie eine lebhafte Unterhaltung, um sich kennenzulernen. Erst gegen Abend, als die Kaffeetassen abgeräumt waren und Weingläser auf dem Tisch standen, wandten sie sich dem eigentlichen Thema zu. Und nach mehreren Treffen beschlossen alle drei gemeinsam, das Projekt in Angriff zu nehmen.

"Als wir ihm dies erzählt hatten, war Tom nachdenklich geworden. Wir erzählten ihm, wie während der Schwangerschaft die Freundschaft zwischen uns und Katja gewachsen war. Es ist auch möglich, daß wir erwähnten, wie oft Katja von ihm redete. Jedenfalls, nach einiger Zeit sah er uns an und meinte, "ihr wollt mir also klarmachen, daß eure Freundschaft zu Katja nichts an ihrer Liebe zu mir geändert hat. Und daß es mir nichts ausmachen sollte, daß meine Frau das Kind von irgendeinem anderen Mann auf die Welt bringt. Und vielleicht habt ihr ja sogar recht. Vielleicht ist es wichtiger, daß wir zusammen sind..."
Diese Gelegenheit ließen wir uns nicht entgehen und erinnerten ihn daran, daß Katja jetzt, wo sie in der Klinik lag, vor einer Aussprache mit ihm nicht davonlaufen konnte. Und er war dann wirklich so weit, daß er das Taxi wieder starten und uns zur Klinik fahren konnte."

Die drei Männer betraten gemeinsam die Klinik und suchten die Entbindungsstation. Dort trennten sich ihre Wege. Zwei wandten sich nach links zum Säuglingszimmer, um ihre Tochter kennenzulernen. Der dritte ging nach rechts zum Zimmer der Mutter. Vor der Tür blieb er stehen, um noch einmal tief Luft zu holen, dann faßte er sich ein Herz und klopfte.

"Und zwei Tage später stand Tom mit einer Flasche Wein vor unserer Tür. Er meinte, wir hätten ja alle etwas zu feiern."

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